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Free your world! – Gefesselt von einem Phänomen

Heute möchte ich von einem Phänomen berichten, welches mich sehr gefesselt hat. Zum einen durch meine eigenen vielseitigen Erfahrungen in diesem Bereich, zum anderen weil sich viele spannende Forschungsfragen (für eine Bachelor- oder Masterthesis) hieraus entwickeln lassen (siehe weiter unten). Vielleicht hätte jemand Lust und Laune sich näher mit dem Beschriebenen auseinander zu setzen? Teilen – wie immer – gerne erwünscht…

Öffentlicher Raum 2.0, digitale Gesellschaft, digitales Engagement oder Online-Volunteering sind Schlagworte (buzzwords), welche einen bestimmten Teil des unübersehbaren Wandels durch die rasante Verbreitung und Nutzung neuerer Medien (hier vor allem „das Internet“) in Deutschland und den Industrienationen bezeichnen können. Ein Teil dieses „Wandels“ beschreibe ich im Folgenden kurz.

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„Free your world!“ – Neue Entwicklungen/Formen des Engagements durch das Web (im Kontext der Sharing Economy?)*

*Ein möglicher Arbeitstitel?

Um das Phänomen näher zu beschreiben, von dem ich seit einiger Zeit gefesselt bin, seien zu Beginn einige Erzählungen hierüber vorangestellt:

Im Sozialen Netzwerk Facebook gründen sich – in studentisch geprägten Großstädten – immer neue regional begrenzte Gruppen mit ähnlicher oder gleicher konzeptioneller Ausrichtung. Mitglieder dieser Gruppen stellen dort verschiedene Güter wie beispielsweise Waren (Möbel, Bücher, CDs, Technik etc.), Dienstleistungen (Übersetzung, Bewerbungstraining, Webdesign etc.), oder Zeit (für Spaziergänge, Hundesitting etc.) zur Verfügung bzw. geben hierfür „Gesuche“ auf oder nehmen „Gebote“ an .

Entscheidend dabei ist, dass die Güter ohne finanziellen Ausgleich angeboten werden. In manchen Gruppen ist dies sogar integraler Bestandteil und in den dortigen Gruppenregeln fixiert. Beiträge mit Angeboten bei denen monetäre Ausgleiche verlangt werden, werden häufig schnell entfernt. Neuerdings erlaubt Facebook in Gruppen auch das Einstellen von „Verkaufsangeboten“.

Um Ihnen ein Bild zu vermitteln, wie dies vonstattengeht, folgen nun einige Beispiele:

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Beispiele aus den Gruppen „Free your Stuff Mainz“ (FYS) und „Free your Craft Mainz“ (FYC)

  • FYC: Ein User stellt einen französischen Text online, nummeriert die Zeilen. Die Community übersetzt (je ein, zwei Sätze)
  • FYS: Alte Laptops werden gespendet, repariert und über die Gruppe FYS wieder an Bedürftige verteilt.
  • FYC: Ich selbst hatte über FYC Models für ein Fotoprojekt gesucht (und in kürzester Zeit über 100+ Kontakte gesammelt).
  • FYS: Eine Fotografin hat beruflich kurz mit Flüchtlingen zu tun: Nun sammelt sie für eben diese Kleider- und Sachspenden.
  • FYC: „Mein Auto springt nicht an – wer kann kommen?“
  • FYS: „Muss ins Krankenhaus – suche Hörspiele“

Die Dynamiken innerhalb dieser Gruppen sind zum Teil nur durch eigene Mitgliedschaft und aktives Beobachten zu verstehen und nachvollziehbar.

Der Markt an Internetseiten, welchen dieses oder ein ähnliches Prinzip des „Swapping“ zu Grunde liegen ist nicht leicht zu durchschauen. Innerhalb dieses kompetitiven Feldes ist ein Monopol noch nicht auszumachen. Neue Plattformen, welche bspw. zunächst nur als App angeboten werden, nutzen unter anderem den jeweils aktuellen Standort (mittels GPS) um das „Matching“ zu verbessern.

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Kontextuelle Einbettung des Phänomens (Sharing Economy)

Die aufkommende Sharing Economy bringt eine Reihe von neuen Geschäftsmodellen und ideellen Impulsen mit sich. Unter dem Begriff „Sharing Economy“ (SE) sammeln sich derzeit divergierende Ansätze. Ursprünge der SE („klassische share economy“) zielten auf das „direkte Teilen zwischen Bürger_innen“ (Wedde/Wedde 2015, 2), welche heute über Online-Plattformen vermittelt werden. Durch diese Plattformen werden gänzlich andere Reichweiten erzielt, als dies Zeitungsannoncen oder Schwarze Bretter vermocht haben. Es lässt sich festhalten, dass sich durch das World Wide Web die Transaktions- und Suchkosten auf ein Minimum reduziert haben und ein „Matching“ zwischen Nachfrager_innen und Anbieter_innen leicht herstellen lässt (vgl. Haucap 2015, 1 ff).

Nach Wedde & Wedde zeigt sich jedoch deutlich, dass ab einer gewissen Marktdurchdringung hohe Gebühren der Plattformbetreiber erhoben werden (Wedde/Wedde 2015, 2). Nicht forderst ob der hohen Kosten der technischen Infrastruktur, als vielmehr aus Gewinnbestrebungen.

Inzwischen ist die SE ein zunehmend globales Phänomen: Von den durch die Medien bekannten Microjobbing-Plattformen, die Wohnungsvermietungs-Plattform AirBnb, die Mitfahrzentrale Uber, über Crowdfunding und Car/Bike Sharing bis hin zu Book/Clothes swapping (Tauschplattformen), lassen sich die unterschiedlichsten Beispiele finden.

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Fragestellung(en) an das Phänomen

Auf mehreren Ebenen ergeben sich mehrere Fragestellungen, die an den Gegenstand gestellt werden können. Diese können von unterschiedlichen Disziplinen (Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Wirtschaftswissenschaft) beantwortet werden.

1. Motivlagen

Bezogen auf die Mitglieder solcher Gruppen/Plattformen stellt sich die Frage unter anderem nach den Motivlagen: Wie entsteht die Bereitschaft Waren etc. kostenfrei zur Verfügung zu stellen, statt diese gewinnbringend zu veräußern? Wieso investieren Mitglieder der Gruppe „Free your craft“ ihre Zeit, um anderen – ohne monetären Ausgleich – ihre Dienstleistungen anzubieten? Worin besteht also der spezifische „Benefit“ für den Gebenden (GIVE), den Suchenden (NEED) und den Nehmenden? Zwar scheint dieser offensichtlich und naheliegend, jedoch vermute ich, dass sich der Nutzen als Gemengelage aus unterschiedlichen Bereichen zusammensetzt. Hierzu tragen u. a. Beiträge aus der Soziologie zum Thema Tausch sicherlich gewinnbringend etwas bei (Grundlagen in „Vom Geben und Nehmen: Zur Soziologie der Reziprozität“).

2. Überschneidung bestehender Netzwerke

Darüber hinaus stellt sich mir die Frage nach Überschneidungen bereits bestehender lokaler offline-Netzwerke (z.B. die in vielen Städten beliebten Tauschringe) zu den sich online abbildenden entstehenden online-Netzwerken und deren Interdependenzen. Da die online-Kontakte häufig nicht im Virtuellen verhaftet bleiben, wäre interessant zu fragen, inwieweit sich neue Bekanntschaften oder auch andere Beziehungsstrukturen hieraus ergeben können. Ebenso wäre sicherlich eine Untersuchung der Gruppenzusammensetzung (milieuspezifische Unterschiede, Typenbildung) gewinnbringend.

3. Neue Formen des Engagements?

In diesen Gruppen sehe ich neue(re) Formen des Engagements (Micro-Volunteering?) entstehen. Diese sind jedoch nicht so stark formalisiert, wie dies aus anderen Kontexten bekannt ist. Das neue an diesem Phänomen ist zunächst die gewählte Plattform (z.B. Facebook). Jedoch – so die Vermutung – wird sich auch in der Qualität des Engagements etwas verändern, bzw. wird diese anders zu bewerten sein als „herkömmliche“ Engagementsformen. Von Interesse wäre hier die Betrachtung dieser neueren Formen im Sinne einer Analyse der Beschaffenheit des Engagements (Einstieg, Beteiligung, Dauer, Vernetzung, Ausstieg…).

4. Anonymität vs. Vertrauensvorschuss

Innerhalb dieser Gruppen/Plattformen herrscht eine zunächst faktisch gegebene „Anonymität“. Jedoch wird innerhalb der Gruppe ein großes Vertrauen den anderen Mitgliedern entgegengebracht und bspw. die Anschrift übermittelt. Mein Interesse bezieht sich auf diesen „Vertrauensvorschuss“.

Zu beobachten ist, dass sich neue Plattformen gründen welche versuchen genau diese Formen des Engagements über das Internet zu organisieren und zu bündeln.

5. … und die Soziale Arbeit?

Kann sich hiervon sicherlich eine Scheibe abschneiden und von diesen Phänomenen lernen. Sei es im Bereich von Fundraising, Organisationsstrukturen oder im „Akquirieren von möglichen Freiwillgen“.

  • Was lässt sich aus diesen bestehenden und funktionierenden Strukturen für die Soziale Arbeit ableiten (Gemeinwesenarbeit/Nachbarschaftshilfe/Online-Kampagnen/Fundraising /Sozialraumorientierung etc.)?
  • Wie ließen sich solche Gruppen für soziale Projekte erschließen/einbeziehen (bspw. in der Arbeit mit geflüchteten Menschen)?
  • Erscheint es sinnvoll, Klient_innen darin anzuleiten, sich solche Gruppen/Netzwerke mit ihren Fähigkeiten/Möglichkeiten/Ressourcen eigenständig für deren Bedarfe zu erschließen bzw. wie können sie sich dort einbringen ? (Peer-to-Peer?)
  • Engagement steigt mit Erwerbsarbeit -> Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich auch andere engagieren?
  • In welchen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit ließen sich Patenschaften (z. B. Sprachtandem / Online-Tandem) etablieren?
  • Soziale Arbeit entstand aus bürgerschaftlichem Engagement > neue Formen der lose verbundenen Zusammenschlüsse?

6. Weitere spannende „Phänomene“ resp. „Bewegungen“

Repair-Cafés / Freifunk / Lebensmittelretter (Foodsharing) / Tandem in *Stadt* (Sprachtandem) / Neu in *Stadt* / Obdachlos in *Stadt* / Pflanzentauscher *Stadt* /  Refugees Solidarity / Kleiderkreisel / Couchsurfing / betterplace.org / change.org /  Pumpipumpe etc.

Spread the word & Feeback wanted

Was sind Ihre Erfahrungen mit solchen Gruppen? Sind Sie selbst beteiligt in solchen? Oder haben Sie Erfahrungen mit anderen Formen des Swapping sammeln können?

Gerne würde ich mit Ihnen über diese Aspekte in einen Austausch kommen!

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Literatur

Haucap, Justus (2015): Ökonomie des Teilens – nachhaltig und innovativ? Die Chancen der Sharing Economy und Ihre möglichen Risiken und Nebenwirkungen. Düsseldorf: Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE) (DICE Ordnungspolitische Perspektiven, Nr 69).

Wedde, Peter/Wedde, Irene (2015): Schöne neue „share economy“? Unter: http://library.fes.de/pdf-files/managerkreis/11265.pdf (Stand: 04.01.16)

Von Benedikt Geyer

Mein Name ist Benedikt Geyer. Auf meiner Seite verblogge ich Interessantes rund um die Soziale Arbeit & neuere Medien und deren gegenseitige Wechselwirkung.

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